Stark ausgeprägt ist der Gerechtigkeitssinn. Einwurf in der Mitte mit Beeinflussung wie beim Soccer ist verpönt, starke Vornespieler könnten ja das Spiel durch Profi-5er-zu-3er-Pass-Spiel allzusehr dominieren, außerdem beherrscht in Berlin kaum jemand den beeinflussten Einwurf. Also wird grundsätzlich von hinten eingeworfen, in Kauf nehmend, daß so kaum jemand Einwurf und Paß richtig erlernen kann (wozu auch?). Verliert nun der hintere Spieler beim Einrollenlassen des Balles über die Ecke den Ball unabsichtlich, so ist ihm dieser unverzüglich zurückzugeben. Tut man dies nicht, weil man womöglich die Unabsicht nicht ganz wahrnahm, wird man mit einem rüden "Ich war noch nich dran!!" zurechtgewiesen, ein Ruf, in den die ganze Verbitterung der entrechteten Kreatur, aber auch die Zuversicht gelegt wird, getragen von der Welle der Solidarität der anderen von Profis Geknechteten ganz sicher zu seinem Recht zu kommen.
"Noch nich dran" war man auch, wenn ein Abschlagversuch von der 2er-Reihe offensichtlich mißlungen vollführt wurde. Es sei denn, es wird damit ein Tor erzielt. Übrigens, theoretisch wiederholt sich das Spielchen Ball-verlieren/Ball-zurückgeben je nach Alkoholisierungsgrad der Protagonisten in einer Endlosschleife, ohne Murren und Knurren. Erlaubt dagegen ist es für den Hintenspieler, den Ball schnell abzuschlagen, ohne darauf zu achten, ob die Gegner bereit sind - solchermaßen erzielte Tore erheischen eher noch Bewunderung. Schwankend in der Rechtspraxis ist der Fall des Ins-Spiel-Bringens des Balles in der Ecke nach totem oder rausgeflogenem Ball.
Das ausgeprägte Faible für Dynamik zeigt sich daran, daß am Rütteln der nichtballführenden Partei nichts Anstößiges gefunden wird, auch wenn der Ball dem Gegner dadurch verloren geht. Pech. Selbstverständlich auch darf ein Schütze direkt vor dem Schuß mit der anderen Stange zur Ablenkung kräftig gegen die Bande schlagen. Starre Regeln stören - fliegt ein Ball raus, wird er "dort einjewoafen, woa rausjeflojen is", je nach Perspektive der Betrachter, im Zweifel in der Mitte (ohne Beeinflussung! Sonst unfair!). Bälle, die wieder aus dem Tor herauskommen, zählen nicht als Tor - hier kommt der Zufall zu seinem Recht und mehr Dynamik ins Spiel.
Immer wieder schien es so, als täte sich organisatorisch etwas. Dieses Jahr sollte sogar eine Liga starten bisher ist das Projekt in den Ansätzen steckengeblieben. Und die monatlichen Turniere von Alex ("das Monster") sind längst Geschichte. Ein Grundproblem dabei war dabei war immer die mangelnde Bereitschaft der Kicker-Berliner, den eigenen Feierabend-Kicker-Kiez zu verlassen. Dennoch: der Nährboden ist da. Kickerfleiß allenthalben, ob in Kneipen wie der Weddinger "Zur Molle" (ein in Berlin absolut origineller Name!), dem Kreuzberger Intertank (mäßig lebensbejahendes Ambiente) oder dem jungfröhlichen Prenzlberger Nemo, um nur Beispiele zu nennen.
In manchen Kneipen finden schon immer unregelmäßige Kneipenturniere statt, doch geschieht dies häufig im Verborgenen, bisweilen sind zu viele fremde Besucher eher unerwünscht: die greifen eh nur die Preise ab, außerdem ist die eigene Spielschwäche dann nicht so augenfällig. Dass sich die Spieler der Chance begeben, neue Impulse aufzunehmen, ist geradezu Programm: Berliner Lernresistenz sichert so verläßlich gleichbleibende Spielqualität über Jahre hinweg. Als Spielmodus hat sich Newbie meets Profi durchgesetzt, ein "Guter" wird mit einem "Schlechten" zusammengelost, wegen der Gerechtigkeit. Für jeden Geldbeutel ist etwas dabei, die Startgelder schwanken zwischen 5 und 20 Mark pro Nase.
Berlin ist eine Kickerinsel, mit eigenen, nur hier gültigen Gewohnheiten, Hauptstadt wollte man auch im Kickern nie werden. Zwar bringen Fremde manchmal Kunde von hochentwickelten Kulturen aus Kickergalaxien, die nie ein Berliner Aug' zuvor gesehen, bisweilen gelingt es solchen Zugezogenen (wie dem Berliner Soccer-Nestor Brendan "Brandy" Dar oder dem inzwischen verstorbenen Soccerprofi Hans-Peter Wagner) sogar, etwas von diesen Kulturen einfließen zu lassen, doch bleibt am liebsten alles beim alten, im Vordergrund steht der Spielspaß.
Wandel ist nur spürbar durch die Gezeiten des Eröffnens und Sterbens von Kneipen oder dem Wechsel der Pächter. So verbreitet die Berliner Kickerszene mit ihrer Selbstgenügsamkeit eine fast familiäre Atmosphäre, niemand setzt Ungeübtere unter Leistungsdruck, bei den Turnieren ist oft ein reichhaltiges Büffet im Startgeld inbegriffen, nirgendwo (außer vielleicht im Saarland) sind Damen und Herren auch zahlenmäßig so gleichberechtigt.
Jede Kneipe hat ihre eigene Kicker-Community und der Zugereiste tut gut daran, sich einzupassen. Gelingt ihm dies, so wird sogar der Profi gern in die Gemeinschaft integriert. Ist man nicht allzu leistungsorientiert, lernt man nach einer gewissen Eingewöhnungskarenz die Berliner Kickerszene ebenso schätzen und lieben wie die Stadt selbst.
September 2000 Willy Meyer
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Huuuch! Da haben sich doch ein paar Subbeto-Figuren reingemogelt.
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